Offene und geschlossene Fragen: Was bewirken sie?

Egal, wie raffiniert unsere diagnostischen Möglichkeiten schon sind und noch werden: Im Mittelpunkt jedes Arzt-Patienten-Kontaktes steht immer das Gespräch und das Stellen guter Fragen. Wir können Symptome erfragen und Details erfahren. Wir erheben die Anamnese, fragen nach Daten, Vorgeschichte, Allergien und nach den länglichen, rötlichen Pillen, deren Name und Dosis dem Patienten leider gerade entfallen sind.

In der Medizin haben wir gelernt, wie eine effektive und zeitsparende Anamnese abläuft. Wir haben die Fließdiagramme gelernt, an denen wir uns entlangfragen können, vom Symptom bis zur fertigen Diagnose. Lauter Ja-Nein-Entscheidungen, die wir am effektivsten durch geschlossene Fragen abarbeiten können.

Aber es gibt Situationen, in denen uns diese Art zu fragen nicht hilft. Sie schadet sogar.

Wo liegt der Unterschied zwischen geschlossenen und offenen Fragen? Wann sollten wir offene Fragen stellen und welche Vorteile bringen sie?

Geschlossene Fragen: Effektiv aber riskant

Geschlossene Fragen zielen auf kurze, spezifische Antworten ab. Sie erfordern meist kurze Antworten, wie ein „Ja“ oder „Nein“ oder eine Auswahl aus vorgegebenen Optionen. In Notfallsituationen und bei Routineabläufen sind sie nützlich und effektiv. Wer mit Brustschmerzen in die Notaufnahme kommt, möchte kurz und knapp schildern können, was los ist. Hier kommen wir mit geschlossenen Fragen am schnellsten zum Ziel.

Beispiele für geschlossene Fragen sind:

  • "Wo haben Sie Schmerzen?"
  • "Haben Sie diese Medikamente schon einmal genommen?"
  • "Fühlen Sie sich heute besser als gestern?" 
  • "Haben Sie in der letzten Woche Alkohol getrunken?"
  • "Sind Sie allergisch gegen bestimmte Medikamente?"

Diese Fragen liefern direkte, konkrete Antworten, die für Diagnose und Behandlung entscheidend sein können.
Doch wir haben uns so an unsere geschlossenen Fragen gewöhnt, dass wir manchmal die Nachteile übersehen. Denn unser Patientenkontakt beschränkt sich nicht auf Notfälle. Wenn wir uns gut um unsere Patienten kümmern wollen, braucht es mehr als ständige Ja-Nein-Antworten.

Geschlossene Fragen

Wenn wir unsere Aufgabe ernst nehmen, dann wollen wir mehr über unsere Patienten erfahren. Wir wollen ihre Bedürfnisse und Wünsche kennenlernen. Wir wollen wissen, in welchen Lebensumständen sie gerade stecken, wie es ihnen geht. Wir wollen sie bei gesunden Entscheidungen unterstützen und etwas über ihre eigenen Ziele erfahren.

Wenn wir nur fragen: „Was machen Sie beruflich?“, dann erfahren wir den Beruf. Wir erfahren nicht, dass er im Schichtdienst tätig und meist im Auto unterwegs ist. Wir merken nicht, dass das verordnete Diuretikum mit seinem Arbeitsalltag unvereinbar ist. Wundern wir uns dann, warum er es nicht einnimmt? Hätten wir es vielleicht mit einer anderen Fragetechnik die Gründe erfahren?

Wenn wir überwiegend geschlossene Fragen stellen, riskieren wir häufig in eine Falle zu tappen, uns zu früh auf eine Diagnose festzulegen (Vorzeitiger Fokus). Wir sehen nur die Spitze des Eisbergs und konzentrieren uns vielleicht auf die falschen Dinge.

Geschlossene Fragen machen unser Gegenüber passiv. Er darf nicht selbst entscheiden, was er berichten möchte. Wenn bei unserem Gesprächspartner der Eindruck entsteht, wir interessieren uns nur für die akuten Probleme, leidet die Arzt-Patienten-Beziehung, wir blockieren ungewollt die Kommunikation.

Vor- und Nachteile geschlossener Fragen

Vorteile:

  • Schnelle und effiziente Informationsgewinnung.
  • Kurze Fragen und kurze Antworten sparen scheinbar Zeit. 
  • Klarheit und Direktheit der Antworten.

Nachteile:

  • Fördert Passivität bei Patienten.
  • Beschränkt Antworten auf gestellte Fragen, wichtige Details bleiben unentdeckt.
  • Gefahr, dass wir in die Falle des „Vorzeitigen Fokus“ geraten.
    Ungünstig für die Arzt-Patient-Beziehung.


Die Vorteile offener Fragen

Eine offene Frage ist wie eine offene Tür. Sie lädt zu einer ausführlichen Antwort ein.

Eine offene Frage ist wie eine offene Tür

Klingt das erst mal gefährlich?

Tatsächlich verlieren wir ein wenig die Kontrolle, wenn unsere Patienten selbst entscheiden dürfen, was und wie sie antworten. Aber die Informationen, die wir dabei erhalten, hätten wir mit geschlossenen Fragen nie bekommen.

Offene Fragen regen Patienten dazu an, etwas Wichtiges zu tun: Nachdenken. Denn anders als geschlossene Fragen fördern offene Fragen das eigene Reflektieren. Patienten dürfen ihre Gedanken, Gefühle, Ängste und Ziele äußern. Und wenn wir dann noch das „aktive Zuhören“ beherrschen, können wir oft schon mit zwei offenen Fragen eine Menge bewirken.

Typischerweise beginnen solche Fragen mit „Was“, „Wie“, oder „Warum“. Beispiele für offene Fragen sind:

  • „Wie fühlen Sie sich heute?“
  • „Was denken Sie, welche Auswirkungen hat Ihr jetziger Lebensstil auf Ihre Gesundheit?“
  • „Erzählen Sie mir mehr über Ihre Erfahrungen mit dieser Behandlung.“

Vor allem, wenn wir mit Patienten ins Gespräch kommen wollen über Veränderungen und gesunde Lebensweisen, sind offene Fragen unerlässlich. Mit ihnen fördern wir die aktive Beteiligung, fördern die Selbstreflexion und stärken das Selbstbewusstsein. Unsere Patienten erleben sich als Partner in der Behandlung, statt wie ein Problem im Reparaturbetrieb.

Mit offenen Fragen können wir vieles erfahren und erreichen

  • Wünschen auf den Grund gehen:
    „Welche Ergebnisse erhoffen Sie sich von X?“
  • Notwendigkeiten erarbeiten:
    „Wie wichtig ist X für Sie?“
  • Fähigkeiten und Stärken erfragen:
    „Welche Ideen haben Sie, wie Sie X erreichen könnten?“
  • Motive erfragen:
    „Welche Gründe sprechen dafür, dass Sie X machen?“

Vor- und Nachteile offener Fragen

Vorteile:

  • Ermöglichen tiefere Einblicke in die Gedanken und Gefühle der Patienten.
  • Fördern aktive Beteiligung und Selbstreflexion.
  • Geeignet für komplexe und nuancierte Gesprächsthemen. 

Nachteile:

  • Können mehr Zeit in Anspruch nehmen als geschlossene Fragen.
  • Antworten können vom eigentlichen Thema abweichen.
  • Erfordern mehr Fähigkeiten im aktiven Zuhören und in der Gesprächsführung.


Motivierende Gesprächsführung: Die OARS als Techniken guter Gespräche

Keine Gesprächstechnik ist so gründlich wissenschaftlich evaluiert wie das „motivational interviewing“ (MI), von dem im Herbst 2023 die vierte Auflage erschienen ist.  

Die motivierende Gesprächsführung hat sich als effektiv erwiesen, um Patienten bei der Erforschung und Umsetzung von Veränderungen in ihrem Leben und bei gesunden Entscheidungen zu unterstützen. Dabei sind keine langen Gespräche erforderlich. Selbst in kurzen Gesprächen hat sich die Methode als effektiv erwiesen.

MI kann Patienten zu einer positiven Verhaltensänderung motivieren. Sie gründet auf drei Säulen:

  • Einer Grundhaltung, die definiert, was unsere Aufgabe ist und wie wir unseren Patienten begegnen („Spirit of MI“). Es geht um Empathie, Respekt und die Betonung der Autonomie unserer Patienten. Wir signalisieren Vertrauen und Akzeptanz, der Patient fühlt sich gehört und verstanden.
  • Vier Prozess-Schritten („Tasks“), in denen wir auf eine gute Beziehung achten, Ziele klären, die Gründe für Veränderung herausarbeiten und dem Patienten beim Erstellen eines Plans behilflich sind.
  • Konkreten Gesprächstechniken, die wir in den jeweiligen Schritten anwenden können (OARS).

Offene Fragen zu stellen, ist eine dieser vier OARS

  • Offene Fragen (Open-ended Questions): Ermöglichen tiefere Gespräche und fördern Selbstreflexion.
  • Anerkennungen (Affirmations): Bestärken und bestätigen die Stärken und Bemühungen der Patienten.
  • Reflexionen (Reflections): Spiegeln die Gedanken und Gefühle der Patienten wider, um Verständnis und Empathie zu zeigen. Sie sind das zentrale Element des „aktiven Zuhörens“.
  • Summarisierungen (Summaries): Wir fassen die Angaben zusammen und helfen, den Fokus zu behalten.
OARS in der motivierenden Gesprächsführung

Innerhalb der OARS nehmen offene Fragen (das „O“) eine Schlüsselrolle ein. Sie sind das Werkzeug, das es den Patienten ermöglicht, ihre Gedanken und Gefühle zu artikulieren, und spielen eine wesentliche Rolle in allen vier Prozessschritten der MI, auch wenn wir Patienten Ratschläge geben wollen

Wie wird das Gespräch verlaufen, wenn Sie...

Wie würde ein kurzes Gespräch mit einem Patienten verlaufen, wenn es mit einer geschlossenen oder einer offenen Frage im Sinne der motivierenden Gesprächsführung beginnt?

Geschlossene Frage: 

„Sie wissen schon, dass Sie Mit Ihrem Alkoholkonsum Ihrer Gesundheit schaden, oder?"

Wie wird der Patient wohl reagieren

Offene Frage: 

„Welche Gedanken haben Sie sich selbst schon über Ihren aktuellen Alkoholkonsum gemacht?"
Wie wird der Patient wohl reagieren?


Die vier Prozess-Schritte in MI und die Rolle offener Fragen

Offene Fragen spielen in allen Prozess-Schritten („Tasks“) von „motivational interviewing“ eine wichtige Rolle.

Beziehungsaufbau

Wenn wir mit unseren Patienten über Veränderungen sprechen möchten, benötigen wir eine vertrauensvolle und unterstützende Beziehung. Unser Gesprächspartner sollte uns als interessiert und wohlwollend erleben, nicht als mahnend und konfrontierend. Offene Fragen wie „Wie fühlen Sie sich mit Ihrer aktuellen Situation?“ zeigen Interesse und Empathie und helfen, ein Verständnis für die Perspektive der Patienten zu entwickeln.

Fokussierung

In diesem Schritt wird das Gespräch auf ein spezifisches Thema oder Ziel gelenkt. Offene Fragen helfen, den Fokus zu finden und zu schärfen, beispielsweise durch Fragen wie „Möchten Sie in den nächsten Wochen etwas verändern in Bezug auf Ihre Gesundheit?“

Online-Kurs zu motivierender Gesprächsführung

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Evokation 

Der Kern dieser Phase ist es, die Gründe für eine Veränderung hervorzurufen und zu stärken („Change-Talk“). Offene Fragen wie „Was wären die Vorteile, wenn Sie diese Veränderung vornehmen würden?“ sind hier besonders effektiv. Sie ermutigen den Patienten, die Gründe selbst zu formulieren und über ihre eigenen Motivationen nachzudenken und zu sprechen. Oft reichen zwei offene Fragen, um Veränderung zu bewirken

Planung

Der letzte Schritt konzentriert sich darauf, einen Plan für die bevorstehenden Veränderungen zu entwickeln. Offene Fragen wie „Wie können Sie die nächsten Schritte in Richtung Ihrer Ziele gestalten?“ unterstützen den Patienten dabei, eigene Lösungsansätze und Strategien zu entwickeln.

Oft genügt es, in einem kurzen Gespräch auf einen der Prozess-Schritte zu konzentrieren. Und dann kann es ganz kurze Gespräche geben, in denen wir Interesse zeigen, Klarheit über die Ziele unseres Gegenübers erreichen, Gründe erfragen und den Patienten ermutigen, sich Ziele zu setzen.

Die 4 Prozess-Schritte der motivierenden Gesprächsführung

Häufige Fragen über offene und geschlossene Fragen

Was sind offene und geschlossene Fragen?

Offene Fragen können nicht kurz beantwortet werden. Sie erfordern, dass unser Gegenüber nachdenkt. Wir wissen nicht, wie er antworten wird und in welche Richtung das Gespräch geht. Zum Beispiel: „Wie fühlen Sie sich heute?“

Geschlossene Fragen hingegen sind solche, die mit einem kurzen „Ja“ oder „Nein“ oder einer spezifischen Information beantwortet werden können, wie z. B. „Haben Sie Schmerzen?“

Was ist der Unterschied zwischen offenen und geschlossenen Fragen?

Mit offenen Fragen ermutigen wir, eigene Gedanken, Details und Gefühle mitzuteilen. Wir stärken die Beziehung und vermeiden einen vorzeitigen Fokus. Geschlossene Fragen können wir immer dann verwenden, wenn wir rasch konkrete Details erfassen möchten.

Einladung zum Ausprobieren


Offene Fragen bewusst einsetzen

Experimentieren Sie in Ihren nächsten Gesprächen mit dem bewussten Einsatz offener Fragen. Formulieren Sie Fragen, die Sie normalerweise geschlossen stellen würden, stattdessen offen und beobachten Sie die Auswirkungen auf das Gespräch.

Das ist besonders wertvoll im ersten Abschnitt eines Gesprächs. Wenn die erste Frage offen gestellt wird und wir danach eine Reflexion anbieten, wird sich ein völlig anderes Gespräch entwickeln, als wenn wir mit der ersten Frage auf unserem Anamnesebogen beginnen.

Haben Sie Bedenken, dass offene Fragen das Gespräch in die Länge ziehen könnten? Sie werden überrascht sein, wie viel mehr Informationen und Einblicke Sie durch eine einzige offene Frage erhalten können – Informationen, die Sie mit geschlossenen Fragen nie bekommen hätten.


Und jetzt?

Offene Fragen sind ein wichtiges Werkzeug von „motivational interviewing“, aber können in jedem Patientenkontakt wertvoll sein. Wir erreichen, dass Patienten aktiv am Gespräch teilnehmen. Wir fördern Selbstreflexion.

Wir stärken die Beziehung zu unserem Gesprächspartner, was sich in vielen Studien als wichtiger Beitrag zur Genesung oder Veränderung herausgestellt hat.

Sie möchten mehr über die motivierende Gesprächsführung und offene Fragen erfahren? Dann ist dieses Video das Richtige für Sie. 

Tiefer einsteigen können Sie mit diesem Online-Kurs. Dort vertiefen wir die Themen OARS und offene Fragen und bieten praktische Übungen und Anleitungen, um diese Fähigkeiten in der Gesprächsführung anzuwenden.

Hier können Sie Ihr Wissen über MI testen und auch diese drei Hinweise helfen Ihnen weiter. 

Online-Kurs zu motivierender Gesprächsführung

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