Die 4. Auflage von Motivational Interviewing: Was ist neu in MI?

Die vierte Auflage von Motivational Interviewing

Die vierte Auflage von „Motivational Interviewing“ (MI) von Bill Miller und Stephen Rollnick erschien im Herbst 2023 in englischer Sprache. Miller und Rollnick bleiben sich treu, denn ungefähr alle 10 Jahre kommt eine neue Auflage. Nach 40 Jahren MI jetzt also Auflage vier.
Auch dieses Mal ist es nicht lediglich eine Überarbeitung. Das Buch wurde vollständig neu geschrieben.

Seit ihrer Erstveröffentlichung hat sich MI nicht nur als effektive Technik in der Psychotherapie und Beratung etabliert, sondern auch als fundamentaler Ansatz in einer Vielzahl von Fachbereichen bewährt.

Die neueste Auflage reflektiert die kontinuierliche Weiterentwicklung und Anpassung von MI an die sich verändernden Anforderungen und Erkenntnisse in diesen Bereichen.

In diesem Artikel möchten wir auf die Veränderungen in der vierten Auflage eingehen. Sie sind also bereits mit den Grundprinzipien
von Motivational Interviewing vertraut, haben vielleicht den Online-Kurs zu MI gemacht oder kennen das Buch aus der dritten Auflage.

Wenn Sie noch wenige Vorkenntnisse haben, dann profitieren Sie wesentlich mehr von diesem Artikel und diesem Video.


Hier möchte ich einen detaillierten Überblick über die wesentlichen Veränderungen in der vierten Auflage bieten. Denn es hat sich einiges getan. Neue Definition, neuen Bezeichnungen und ein veränderter Ansatz, für wen MI alles eine geeignete Gesprächsmethode ist.

Vier Auflagen von Motivational Interviewing von 1992-23023

Vier Auflagen von Motivational Interviewing von 1992-23023

Warum eine neue Auflage?

Miller und Rollnick sind unermüdlich engagiert an der Erforschung und Weiterentwicklung von motivational interviewing. Auch in dieser Neuauflage sind die Forschungsergebnisse und Kenntnisse aus Schulungen eingeflossen.

Die Anwendung von Mi hat sich stark gewandelt, was in der neuen Definition und den Inhalten des Buches deutlich wird. Während es zu Beginn noch eine Art Vorbereitung auf Behandlung darstellte („Preparing People for Change“), entwickelt sich MI immer mehr zu einer eigenständigen Behandlungsmethode. Und vor allem entdecken immer mehr klinisch Tätige sie als Grundlage, als Grundhaltung, aus der heraus sie andere Behandlungsmethoden anwenden.

Und auch die Berufsfelder, in denen MI Anwendung finden, hat sich stark erweitert. Eine steile Entwicklung von der alleinigen Anwendung in der Suchttherapie bis zur Anwendung in der somatischen Medizin, Zahnmedizin, Strafvollzug und Bewährungshilfe, Bildung, Finanzberatung, Führung und Management, Ernährung, Seelsorge, Elternschaft, Psychotherapie, Rehabilitation und Sozialarbeit.

Miller und Rollnick erkannten, dass MI längst nicht mehr nur in der Therapie bei Verhaltensproblemen und notwendigen Veränderungen Anwendung findet. Es hat sich zu einem vielseitigen Werkzeug entwickelt, das auch in Bereichen wie Coaching, Bildung und Führung erfolgreich eingesetzt wird. Diese breitere Anwendung erfordert eine Anpassung und Erweiterung der Definition und des Konzepts, um den unterschiedlichen Kontexten und Bedürfnissen gerecht zu werden.

MI als Grundlage in verschiedenen Therapieverfahren

Ursprünglich entwickelt als Technik zur Förderung von Verhaltensänderungen, hat sich die motivierende Gesprächsführung zunehmend als grundlegende Methode in einer Vielzahl von Therapieverfahren etabliert. In der vierten Auflage des Buches wird diese Entwicklung deutlich hervorgehoben. MI wird dabei nicht nur als eigenständige Methode, sondern auch als integrativer Bestandteil anderer therapeutischer Ansätze anerkannt.

Coaching mit Motivational Interviewing

Die neue Definition von MI

In der vierten Auflage von "Motivational Interviewing" präsentieren Miller und Rollnick eine überarbeitete und erweiterte Definition von MI. Diese Neufassung hebt sowohl den Aspekt der Veränderung als auch den des Wachstums hervor:

"MI ist eine besondere Art, mit Menschen über Veränderungen und Wachstum zu sprechen, um ihre eigene Motivation und ihr Engagement zu stärken."

Diese aktualisierte Definition stellt eine signifikante Erweiterung des Verständnisses von MI dar. Sie reflektiert die Entwicklung von MI zu einem umfassenderen Ansatz, der nicht nur auf die Vorbereitung auf Veränderungen abzielt, sondern die Menschen auf ihrem gesamten Weg des Wachstums und der Entwicklung begleitet.

Indem der Fokus auf die Stärkung der eigenen Motivation und des Engagements gelegt wird, eröffnet diese Definition neue Perspektiven für die Anwendung von MI. Sie ist besonders relevant in Kontexten wie Coaching, Führung und persönlicher Entwicklung, in denen MI zunehmend angewendet wird. Diese Erweiterung ermöglicht es Praktikern, MI in einer Vielzahl von Kontexten flexibel einzusetzen und dabei den individuellen Bedürfnissen und Zielen der Klienten in einem breiteren Rahmen gerecht zu werden.

Online-Kurs zu motivierender Gesprächsführung


Änderungen in der Terminologie und deren Auswirkungen

Mit der vierten Auflage von „Motivational Interviewing“ haben Miller und Rollnick wesentliche Änderungen in der Terminologie vorgenommen, um die Methode einer breiteren Zielgruppe zugänglich zu machen. Diese Änderungen zielen darauf ab, die Sprache von MI zu vereinfachen und alltagsnäher zu gestalten.

Aus Prozess-Schritten werden Aufgaben

Ein markantes Beispiel ist die Umbenennung der vier "Prozesse" von MI in „Aufgaben (Tasks)“ (Engaging, Focusing, Evoking, und Planning). Weitere Beispiele für die aktualisierte Terminologie sind:

Weitere Änderungen

Auch einige andere Begriffe wurden in der vierten Auflage angepasst:

  • Agenda Mapping“ wird künftig als „Choosing a Path" („Einen Weg wählen“) bezeichnet.
  • Developing Discrepancy“ wurde umbenannt in „Planting Seeds“ („Samen säen“).
  • Auch das Konzept, wie wir Ratschläge geben als"Elicit-Provide-Elicit“ hat eine neue Bezeichnung und heißt jetzt „Ask-Offer-Ask“ („Fragen-Anbieten-Fragen“) und betont noch stärker die Bedeutung der offenen Fragen.
  • Formation“ wird zu „Clarifying“ („Klären“)
  • Der „Righting Reflex“ heißt künftig „Fixing Reflex“, was im deutschen wohl weiterhin gut mit „Korrekturreflex“ übersetzt werden kann.
  • Die Technik des „Running Head Start“ ist umbenannt und erweitert worden, es wird künftig als „Pendulum Technique" („Pendeltechnik“) bezeichnet.

Diese neuen Begriffe sollen die Konzepte von MI klarer und greifbarer machen und sowohl neuen Anwendern als auch erfahrenen Praktikern einen leichteren Zugang ermöglichen. Es bleibt jedoch abzuwarten, wie diese Begriffe in der deutschen Übersetzung der vierten Auflage genau benannt werden.

Pendulum Technik In MI


Veränderungen im Buch und seiner Struktur

Klares Ziel: Das Buch sollte kompakter werden, von vielem Ballast der dritten Auflage befreit. Miller und Rollnick formulieren das Ziel von „simplicity (Einfachheit)“ für die neue Auflage.

Und obwohl so viele neue Erkenntnisse in das Buch eingeflossen sind, ist es mit 30 % geringerem Umfang deutlich kompakter geworden.

Miller und Rollnick verzichten in der neuen Auflage auf viele der sehr detaillierten Beschreibungen bestimmter experimenteller Studien sowie auf ausführliche Diskussionen, die spezifisch für psychotherapeutische Anwendungen waren. Stattdessen konzentrierten sie sich auf das Wesentliche von MI, um das Buch prägnanter und leichter verständlich zu gestalten. Auch der Wegfall der APA-Zitierweise erleichtert das Lesen deutlich.

Die vierte Auflage ist in 18 Kapitel unterteilt, die sich in vier Teile gliedern:

MI-Buch vierte Auflage
  • Teil I: Hilfestellung bei Veränderung und Wachstum
  • Teil II: Grundlagen der vier Aufgaben (Prozess-Schritte)
  • Teil III: Vertiefungen – Kultivierung von Change Talk, Umgang mit Widerstand
  • Teil IV: Erlernen und Vertiefen von MI

Nach den Erfahrungen der Pandemie-Zeit, wurden weitere Kapitel hinzugefügt, die sich mit der Fernanwendung in Online-Kursen, Audio-, Video- und elektronischen Medien beschäftigen

Neu ist auch ein Kapitel zu ethischen Fragen in motivational interviewing.

Die Autoren haben in jedes Kapitel spezielle Abschnitte mit „vertiefendem Wissen“ und persönlichen Erfahrungen integriert. Wer tiefer einsteigen möchte, findet hier weitere Informationen, die andere Leserinnen und Leser getrost weglassen können.

Empowerment: Ein neuer Aspekt im MI-Spirit?

Es sorgte oft für Verwirrung, dass der Begriff des „Evoking“ zwei Bedeutungen hatte. Künftig bezeichnet „Evoking“ nur noch den dritten Prozess-Schritt, oder die dritte Aufgabe, die wir im Gesprächsprozess gemeinsam mit unserem Patienten übernehmen.

Im MI-Spirit wurde der Begriff ersetzt durch „Empowerment

Die Definition von Empowerment lautet: 

Empowerment: Menschen dabei helfen, ihre eigenen Stärken und Fähigkeiten zu erkennen und zu nutzen.

Dieser Begriff betont noch deutlicher das Ziel der Stärkung von Autonomie und des Selbstbestimmungsrechts der Patienten. .

Auch hier scheint der neue Begriff der erweiterten Anwendung von MI Rechnung zu tragen. Denn es geht nicht mehr nur um Veränderungen problematischer Verhaltensweisen, sondern auch um Themen aus Coaching und Führung, wo langfristige Selbstbestimmung und -wirksamkeit von zentraler Bedeutung sind.

Geblieben ist dabei die tiefere Anerkennung der Rolle des Patienten im Veränderungsprozess. Statt lediglich die Motivation zur Veränderung hervorzurufen, wird nun der Schwerpunkt auf die Fähigkeit des Patienten gelegt, ihre eigene Veränderung zu leiten und zu gestalten.

Der Begriff „Empowerment“ ist dabei bewusst gewählt, um die aktive Rolle des Patienten oder Klienten in seinem eigenen Wachstumsprozess zu betonen. Es geht darum, zu helfen, ein stärkeres Gefühl der Kontrolle über das eigene Leben zu entwickeln, indem individuelle Stärken und Ressourcen hervorgehoben und genutzt werden.

Empowerment in MI


Hinter den Kulissen: Diskussionen und Entscheidungen der Autoren

In einem Podcast berichtet Rollnick von den intensiven Diskussionen, die Miller und er während der Gestaltung der Neuauflage hatten. Ganz einig waren Sie sich offenbar nicht immer, denn Rollnick hätte sich einige Veränderungen gewünscht, die Miller nicht mittragen wollte.

Denn die Erweiterung um den Aspekt des „Wachstums“ wirft Fragen auf, ob einige Konzepte von MI noch zeitgemäß sind.

Geht es noch um Ambivalenz?

Die Überwindung von Ambivalenz ist auch in der vierten Auflage ein zentrales Thema und ist jedem, der MI beherrscht, gut geläufig.

Aber ist dieser Begriff noch passend, wenn es zunehmend auch um Wachstum und persönliche Weiterentwicklung geht? Hier liegt keine Ambivalenz zugrunde, sondern der Wille zur Entwicklung, ohne Konflikt, den es zu verdeutlichen gilt.

Miller und Rollnick kamen zu dem Schluss, dass der Begriff weiterhin relevant bleibt, da Ambivalenz ein häufiges Merkmal menschlichen Verhaltens und Entscheidungsprozesses ist, auch in Kontexten, die über traditionelle Veränderungsszenarien hinausgehen.

Weiterhin DARN und CATs?

Auch diese Differenzierung, die für das Erkennen einer reifenden Veränderungsbereitschaft wichtig erscheinen, spielen bei Wachstum und Entwicklung eine geringe Rolle.

Trotz möglicher Bedenken entschieden sich die Autoren, diese Elemente beizubehalten, da sie weiterhin als wertvoll für das Verständnis und die Anwendung von MI angesehen werden.

Diese Entscheidungen zeigen, dass die Autoren eine Balance zwischen der Bewahrung der Kernprinzipien von MI und der Anpassung an neue Erkenntnisse und Anwendungsbereiche anstreben. Eine Balance zwischen Bewahren der ursprünglichen Gedanken und den Herausforderungen der Weiterentwicklung.

Schritte zusammenfassen?

Rollnick berichtet von Diskussionen, ob nicht „Evoking“ und „Planing“ besser zu seinem Prozess-Schritt zusammengefasst werden sollten. Hier wurden keine Veränderung vorgenommen.

Die 4 Prozess-Schritte der motivierenden Gesprächsführung

Affirmations erweitert

Geblieben sind auch die „Affirmations“, die man auch als besondere Form der Reflexion verstehen könnte.

Bei den Affirmationen hat es dagegen eine Erweiterung gegeben. Ähnlich wie schon bei den Reflexionen wird hier künftig auch zwischen einfachen und komplexen Formen unterschieden.
Hier wollten Miller und Rollnick die Betonung von komplexen Würdigungen betonen und wegkommen von dem, was sie als „Cheerleading“ bezeichnen.

Spätestens durch diese Veränderung wird wohl auch eine Überarbeitung der Bewertungstools von MI (z. B. dem MITI) erforderlich werden.

Die OARS von motivational Interviewing, Motivierende Gesprächsführung im Überblick,

Abschluss und Ausblick

Die vierte Auflage von „Motivational Interviewing“ von Miller und Rollnick ist nicht nur eine Aktualisierung des Textes, sondern auch eine Anpassung an die sich wandelnden Zeiten und Anforderungen in der Praxis des Helfens. Die Erweiterungen und Änderungen in dieser Ausgabe reflektieren die dynamische Natur von MI und die Anwendbarkeit in vielen Bereichen.

Mit dieser Auflage wird MI bestimmt auch im Bereich von Coaching und Führung auf noch größeres Interesse stoßen. Diese Entwicklung ist deutlich, denn auch eine wachsende Zahl der Teilnehmer am Online-Kurs zu motivierender Gesprächsführung kommen aus dem Coaching-Sektor.

Die breitere Perspektive von MI, die nun sowohl Veränderung als auch Wachstum umfasst, bietet spannende neue Möglichkeiten für die Praxis. Es eröffnet Wege, MI in kontinuierlichen und langfristigen Entwicklungsprozessen zu nutzen und dabei die Stärken und Ressourcen der Klienten in den Vordergrund zu stellen.

Bleibt abzuwarten, wann die deutsche Übersetzung der neuen Auflage erscheint.

 Brauchen Sie die neue Auflage?

An den Konzepten, der Grundhaltung und den Techniken hat sich wenig verändert in der vierten Auflage. Wer die alte Auflage gut kennt, wird in der neuen Auflage bezüglich der praktischen Anwendung nicht sehr viele Neuigkeiten erfahren.

Wer sich zum ersten Mal mit MI beschäftigt und ein Buch im Vergleich zu Seminaren oder Online-Kursen bevorzugt, der wird in der neuen Auflage deutlich mehr Struktur und Konzentration auf das Wesentliche finden. Hier lohnt die neue englische Auflage oder das Warten auf die deutsche Übersetzung.

Und auch wer tiefer einsteigen möchte in die neuen Konzepte und die wissenschaftliche Weiterentwicklung, wird Freude an der neuen Auflage haben, ebenso Menschen, die MI im Coaching anwenden möchten. 

Online-Kurs zu motivierender Gesprächsführung


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