Sind Sie Führungskraft oder Babysitter?

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Haben Sie früher auch den Assistenten-Stammtisch der Klinik besucht? Als ich in der Weiterbildung war, haben wir uns regelmäßig in der Kneipe getroffen. Neben dem Konsum alkoholischer Getränke hatte das Ganze vor allem einen Zweck: den Austausch über andere Kollegen.

Na gut. Nennen wir es beim Namen: Es ging ums Ablästern. Am liebsten über unsere Chefs. Bei denen machte es doch am meisten Spaß, oder?

Ein Oberarzt kam damals besonders schlecht weg. Inzwischen weiß ist, dass er der beste Oberarzt war, den wir Assistenten damals hatten.
Es störte die Kollegen, dass er auf Fragen keine klaren Antworten gab. Stattdessen fragte er zurück. Ganz offenbar hatte er keine Ahnung von der Materie und wir rätselten, wie er es geschafft hatte, Oberarzt zu werden.

  • Was sollen wir bei Herrn X tun? – Was würden Sie tun?
  • Welches Medikament ist bei Frau Y wohl am besten? – Welches würden Sie nehmen?
  • Können wir Herrn Z schon heute entlassen? – Was ist Ihre Meinung?

Nie wollte er sich klar positionieren und einfach mal eine Anweisung geben, an die wir uns hätten halten können.  Es war anstrengend, ihn zum Oberarzt zu haben.

Von Babysittern umgeben?

In vielen Kliniken müssen die Assistenten ja nicht mehr warten, bis der Oberarzt auf Station kommt oder auf den Piepser reagiert. Sie können ihn ja jederzeit auf seinem DECT-Telefon erreichen.  So können Sie ihn wegen jeder noch so kleinen Frage bei dem stören, was er gerade zu erledigen versucht.

Dann wird man oft unfreiwillig Zeuge, wie heute Führungskräfte mit den Fragen und Problemen ihrer Assistenten umgehen. Viele hören sich das Problem kurz an und geben sofort eine Antwort. Sie sagen klar, was zu tun ist und der Assistent setzt die Anordnungen nur noch um.
Frage, Antwort, fertig.

Fragen schaffen Bewusstsein, Antworten beenden Bewusstsein*

Und dann gibt es Oberärzte, die sich nicht nur das Problem anhören, sondern die ihre Assistenten bei der Entwicklung einer mysteriösen Fähigkeit gefördert haben:

Eigenständiges Denken.

Sie fragen nach, welchen Vorschlag der Kollege hat. Sie hören sich den Vorschlag an, stellen noch einige Fragen und stimmen dem Vorschlag meist zu. Oder sie erläutern, warum sie bei der Lösung Bedenken haben und einigen sich mit dem Kollegen auf ein anderes Vorgehen.

Diese Führungskräfte haben verstanden, was es bedeutet, Kollegen darin zu fördern, lösungsorientiert zu denken, statt die Lösungen immer vorzugeben. Es hat nur Vorteile:

Selbstständigkeit und Selbstbewusstsein fördern
In dem sie mit Ihrer Führungskraft zusammen Lösungen erarbeiten, entwickeln Kollegen ein Problembewusstsein und Selbstbewusstsein, auch in schwierigen Situationen Entscheidungen zu treffen, wenn kein Chef zur Rückversicherung da ist. Sie sind so auch optimal vorbereitet auf den Wechsel in den Facharzt-Status, wo sie ja auch selbst entscheiden sollen. Voraussetzung dafür ist, Kollegen zu ermutigen, ihre Lösungsvorschläge zu präsentieren, ohne Angst vor Kritik oder Tadel.
Führungskraft entlasten
Wenn Sie nicht mehr jedes Problem selbst lösen müssen, bleibt Ihnen viel Energie für die eigene Arbeit. Statt sich ständig (für andere) Gedanken über alltägliche Probleme zu machen, können Sie sich darauf beschränken, sich die möglichen Lösung anzuhören und der in der Regel zuzustimmen. Eine unglaubliche Entlastung im vollen Alltag einer Führungskraft! So ist man nicht mehr Babysitter, sondern endlich die Führungskraft, die Mitarbeiter fördert und entwickelt.
Die Vorteile sind so groß, da riskiere ich doch gerne, dass einige Assistenten beim dritten Bier meine Fachlichkeit in Frage stellen, das ist es wert!

Gebt uns Antworten!

Aber warum wollen viele Assistenten lieber Antworten statt Fragen? Warum wollen sie lieber Anweisungen umsetzen, statt sie selbst zu erarbeiten?  Es hängt davon ab, wie eine Klinik organisiert ist, was Führungskräfte in ihren Mitarbeitern sehen und wie mit Fehlern umgegangen wird. Je mehr man befürchten muss, für Fehler bestraft oder getadelt zu werden, desto mehr sucht man Sicherheit statt Selbständigkeit. Aber aus Sicherheit heraus entsteht selten etwas neues, die Kollegen entwickeln sich nicht weiter. Sie lernen nur eins: Anordnungen umsetzen.

Doch wenn ich vor allem von Mitarbeitern umgeben bin, die nur Anordnungen umsetzen, dann zwingt es mich, ständig diese Anordnungen zu geben und Babysitter zu spielen. Das ist anstrengend und hält mich davon ab, den Kopf für wirkliche Führungsaufgaben frei zu haben. Deshalb gebe ich keine Antworten mehr, bevor ich nicht wenigstens eine Antwort von meinem Gegenüber gehört habe.



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  • Lieber Herr Dedner,
    wieder ein ebenso interessanter, wie prägnant kurzer Artikel. Hier möchte ich einfach mal Danke sagen. Obwohl ich selber nicht in der Klinik arbeite, sondern in der herstellenden Industrie finde ich Ihre Seite und Emails sehr hilfreich. Klasse! Weiter so!

  • Respekt wer es selber macht!
    Super Tipp lieben Dank, hab dass intuitiv schon oft so gemacht und fühle mich bestärkt!

  • Danke für diesen tollen Artikel!
    Auch ich hatte das Glück, so einen Oberarzt als Vorgesetzten zu haben. Ich empfand es sogar als wertschätzend, wenn eine Gegenfrage kam oder ich in der Oberarzt-Visite durch ein an mich gerichtetes „Was meinen Sie dazu?“ plötzlich hellwach wurde. Und dennoch: Es brauchte Zeit, eigene Erfahrung und Reife, bis ich soweit war. Mag nicht für alle Assistenten sprechen, aber ein strukturiertes, handfestes Wissen war für mich in der Anfangsphase sehr wichtig. Auch das Gefühl, klare „sichere“ Antwort zu bekommen. Schließlich arbeiten wir an Menschen – da halte ich es oft weitaus für besser den Oberarzt zu fragen, bevor ein echtes Missgeschick passiert.

  • Sie sprechen mit diesem Post einen sehr, sehr wichtigen Punkt an! Weil man wirklich zunehmend das Gefühl hat, dass den Leuten das selbständige Denken abgeht, dass Assistenzärzte zunehmend zum „ausführenden Organ“ werden, statt sich für ihre Station /ihre Patienten verantwortlich zu fühlen. Manchmal denke ich, man könnte die Stationen genausogut mit PJlern oder Bachelormedizinern besetzen, denn die eigentlichen Entscheidungen trifft ja sowieso alle der Oberarzt. Und deshalb habe ich habe mich schon öfter gefragt, was heutzutage wohl falsch läuft (denn das einfach „früher ohnehin alles besser war“, ist natürlich keine Erklärung, das dürfte ja wohl jedem klar sein :-).
    Sie zeigen hier schön auf, dass es unsere Schuld als Führungsebene ist, wenn wir den Mitarbeitern alles abnehmen. Und schon mal einen Weg, wie wir dieser Falle entkommen können. Ich würde mich sehr über weitere Beiträge zu dem Thema freuen!

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