Erinnern Sie sich an die Fernsehserie „Emergency Room“?
In einer der ersten Folgen führt der grimmige Chirurg Peter Benton den neuen Assistenzarzt John Carter durch die Klinik.
Als sie an der Radiologie vorbeikommen, sagt Benton: „Hier sitzen nur ein Haufen Idioten.“
Der Chirurg konnte Radiologen nicht ausstehen.
Warum?
Weil sie konsequent den ersten Schritt wertschätzender Kommunikation beherzigen!
Wertschätzende Kommunikation
Viele bevorzugen diesen Begriff, um die Haltung, Denk- und Kommunikationsweise zu beschreiben. Marshall Rosenberg entwickelte sie vor über 30 Jahren.
Rosenberg war nicht glücklich mit der Bezeichnung „Nonviolant Communication (Gewaltfreie Kommunikation, GFK)“. Der Begriff klingt radikal und ruft Skeptiker auf den Plan. Kann eine Gesellschaft, eine Organisation oder gar ein Krankenhaus ganz gewaltfrei sein?
Vermutlich nicht. Aber unsere Art zu denken und zu kommunizieren kann „gewaltsam“ sein und das erzeugt Konflikte. Darum geht es hier.
4 Schritte wertschätzender Kommunikation
Wertschätzende Kommunikation setzt sich zusammen aus vier Schritten. Menschen, die wertschätzend kommunizieren:
- Konzentrieren sich im ersten Schritt auf reine Beobachtungen, ohne die Situation sofort zu bewerten.
- Achten im zweiten Schritt darauf, welche Gefühlesie bei sich und ihrem Gegenüber wahrnehmen.
- Identifizieren im dritten Schritt, welche eigenen Bedürfnisse erfüllt oder nicht erfüllt werden.
- Formulieren im vierten Schritt eine konkrete Bitte, wie die eigenen Bedürfnisse befriedigt werden können.
Das klingt auf den ersten Blick ziemlich einfach. Häufig werden wir so rasch von Emotionen überflutet, müssen mit heftigen Reaktionen unseres Gegenübers umgehen. Wir lassen uns zu „Schubladendenken“ verleiten und verlieren unsere Gefühle und Bedürfnisse aus dem Auge. Die Situation eskaliert.
Erster Schritt: Beobachten ohne zu bewerten
Beschäftigen wir uns hier mit dem ersten Schritt, der reinen Beobachtung, ohne Bewertung. Oft scheint es einfach, zwischen Beobachtung und Bewertung zu trennen.
Glaubt man jedoch dem indischen Philosophen Krishnamurti, so ist die Fähigkeit zu beobachten ohne zu bewerten die „höchste Form menschlicher Intelligenz“.
„So ein Blödsinn“, denken Sie vielleicht? Erwischt.
Die höchste Form menschlicher Intelligenz ist die Fähigkeit,
zu beobachten ohne zu bewerten.
Jiddu Krishnamurti
Im Alltag trennen wir häufig nicht zwischen Beobachtung und Bewertung. Oft ist das gut so.
Wenn Ihnen im Wald ein Tiger begegnet, bewerten Sie die Situation sofort als gefährlich und treten den geordneten Rückzug an. Sie nehmen sich nicht die Zeit zu überlegen, was Sie genau beobachten können. Sie machen sich auch nicht erst Gedanken darüber, ob der Tiger die Situation genauso einschätzt wie Sie. Diese rasche Bewertung ist auch bei Notfällen wichtig, die Details sind später wichtig.
Ausgangspunkt für Konflikte
In vielen Situationen hindert uns die rasche Bewertung daran, die Situation erstmal vollständig zu verstehen und dann zu reagieren. Wir vermischen Beobachtungen und Bewertungen, auch im Klinikalltag.
Es ist eine Hauptquelle für Konflikte, wenn wir schon zu Beginn eines Gesprächs von unterschiedlichen Voraussetzungen (Beobachtungen) ausgehen, worüber wir eigentlich sprechen.
Betrachten zwei Personen das folgende Bild*, so sieht der eine seine junge Frau, der andere seine Schwiegermutter.
Wenn sich beide nicht zu Beginn des Gesprächs darauf verständigen, wovon sie ausgehen, können sie sich lange streiten, ohne jemals zu einer Lösung zu kommen.
Gemeinsame Realität herstellen
Wenn wir also Konflikte mit Kollegen oder Patienten vermeiden wollen, so ist es hilfreich, eine gemeinsame Realität herzustellen über das, um was es geht. Möchten wir also einen Konflikt, ein Verhalten oder ein Problem „gewaltfrei“ ansprechen, so beginnen wir damit, unserem Gegenüber unsere Beobachtung mitzuteilen, ohne eine eigene Bewertung.
Radiologen wissen, wie es geht
In der Medizin kann man diese Trennung von Beobachtung und Bewertung in der Radiologie beobachten: Der Radiologe legt Wert darauf, erst genau zu beschreiben, was er auf der Aufnahme sieht. Er beschreibt alle Details, bevor er das Gesehene bewertet und einen Befund festhält. Manchem Kollegen geht das auf die Nerven, denn sie interessiert nur das Ergebnis, also die Bewertung.
In den Einträgen vieler Krankenakten wird nicht so scharf zwischen Beobachtung und Bewertung getrennt. In Beschreibungen über „unkooperative“, „nörgelnde“ oder „die Krankengymnastik verweigernde“ Patienten kommen eher unsere Bewertungen zum Ausdruck, weniger unsere Beobachtungen.
Wie können wir trennen zwischen Beobachtungen und Bewertungen?
Am besten gelingt diese Trennung einer Videokamera. Sie kann sehen und hören, was um sie herum passiert, aber bewerten kann sie es nicht. Achten Sie in Konfliktsituationen darauf, was eine Videokamera aufzeichnen würde. Sie kann keine Annahmen, Bewertungen oder Urteile aufnehmen, nur die Fakten.
Gelingt es Ihnen, zu Beginn eines Gesprächs sich ganz auf diese Fakten zu konzentrieren, so sinkt das Konfliktpotential erheblich. Ihr Gegenüber ist vielleicht nicht einig mit Ihren Urteilen und Erwartungen, aber auf die beobachtbaren Fakten kann man sich meistens einigen.
Was bisher nicht geschah
Ein weiterer Aspekt macht die Beobachtung der Kamera so besonders: Sie kann nur aufnehmen, was getan oder gesagt wird. Sie kann jedoch nicht aufnehmen, was jemand nicht tut oder sagt. Denn das lässt sich ja auch nicht beobachten. Immer, wenn wir uns darauf konzentrieren was andere nicht tun, nehmen wir Bewertungen vor.
Nicht mit der Tür ins Haus fallen
Nehmen wir an, Sie eröffnen ein Gespräch mit Ihrem Kollegen so: „Du bist total unzuverlässig“.
Wird Ihr Kollege dieser Bewertung zustimmen? Oder wird er sich angegriffen fühlen und den Drang verspüren, sich zu rechtfertigen?
Sagen Sie dagegen: „Ich habe gestern darauf gewartet, dass Du mir wie vereinbart die zwei Euro zurückgibst, die ich Dir geliehen habe. Ich habe sie nicht erhalten“. Wie reagiert er dann?
Dieser reinen Beobachtung kann ihr Kollege vermutlich zustimmen. Stimmt er nicht zu, dann wissen Sie schon zu Beginn des Gesprächs, dass sie beide von unterschiedlichen Realitäten ausgehen. Sie können sich jedes weitere Gespräch ersparen, bevor Sie nicht eine gemeinsame Basis geschaffen haben. Vielleicht hat er Ihnen das Geld ja ins Fach gelegt und Sie haben es übersehen? Oder er hat es Ihrer Kollegin gegeben, die vergessen hat es Ihnen weiter zu geben?
Gut, wenn Sie das vorab klären, bevor es Vorwürfe (Bewertungen) hagelt und Streit entsteht.
Zusammengefasst dient der erste Schritt der GFK dazu, im Gespräch eine gemeinsame Grundlage zu schaffen und Bewertungen zu vermeiden. Ich teile meinem Gegenüber meine Beobachtungen mit, von denen ich im weiteren Gespräch ausgehe.
Antwortet mein Gegenüber z.B. mit „das sehe ich aber anders“, oder mit „Ja, aber“, dann haben sich in die reine Beobachtung offenbar Bewertungen eingeschlichen, die mein Gegenüber nicht teilt. Erst wenn sich zwei Gesprächspartner auf eine gemeinsame Grundlage einigen können, kann ein fruchtbares Gespräch entstehen.
im nächsten Teil beschäftigen wir uns mit einem weiteren Schritt der wertschätzenden Kommunikation.
Sie haben Interesse an GFK? Im Buch „Gewaltfreie Kommunikation im Gesundheitswesen“ beschreibt die Krankenschwester Melanie Sears ihre Erfahrungen mit GFK in einer psychiatrischen Klinik. Vieles ist gut übertragbar auf jedes Krankenhaus.
Einladung zum Ausprobieren
Achten Sie in dieser Woche bei Ihren Beschreibungen einer Situation darauf, ob es sich um eine Beobachtung oder eine Bewertung handelt.
Wie gut können Sie zwischen Beobachtung und Bewertung unterscheiden? Machen Sie den Online-Test!.
Nächster Schritt:
Hier geht es zum Teil 2 der Serie: Wer ist für meine Gefühle verantwortlich?
*Bildnachweis: By William Ely Hill (1887–1962) („Puck“, 6. Nov 1915) [Public domain], via Wikimedia Commons