Im Alltag wird viel etikettiert
Die vergessliche Patientin
Wie reagiert wohl die Patientin, die im Bett liegt und gefragt wird: „Sie haben vergessen, Ihre Tabletten zu nehmen!“?
Wie kommen Sie drauf, dass sie die Medikamente vergessen hat?
Teilen Sie Ihrem Gegenüber erst mit, was Sie beobachten, also was Sie zu einer möglichen Schlussfolgerung (Bewertung) führt:
„Auf Ihrem Nachttisch steht der Becher mit Ihren Medikamenten und ich sehe, dass die Tabletten noch drin sind“. So vermeiden Sie eine Bewertung (vergessen) und teilen dem Gegenüber nur Ihre Beobachtungen mit. Vielleicht gab es gute Gründe für die Patientin, die Medikamente noch nicht zu nehmen?
Wenn wir gleich bewerten (vergesslich, unzuverlässig), fühlt sich die Patientin angegriffen und sie wehrt sich. Auf die Mitteilung der Beobachtung kann sie reagieren und erklären, was los ist. Konflikt verhindert!
Der unzuverlässige Kollege
„Du bist total unzuverlässig!“. So könnte die Bewertung lauten, wenn der Kollege uns die 10 Euro nicht zurückgibt, die wir ihm am Montag in der Kantine geliehen haben.
Aber wer weiß? Vielleicht hat er sie uns längst ins Fach gelegt und wir haben es übersehen? Vielleicht hat er das Geld unserer Kollegin gegeben, mit der Bitte, sie uns zu geben und die Kollegin hat es vergessen?
Die Mitteilung der Beobachtung verhindert den drohenden Konflikt: „Ich habe Dir am Montag in der Kantine 10 Euro geliehen und habe sie bisher nicht zurückbekommen“. Der Kollege kann zustimmen oder widersprechen, aber angegriffen fühlt er sich erstmal nicht und wehren muss er sich auch nicht. Kein Anlass für Streit und Unmut.
Der egoistische Freund
Wie fühlen Sie sich, wenn Sie verabredet sind und Ihr Freund kommt 30 Minuten später? Sind Sie vielleicht sauer und begrüßen ihn gleich mit „Du bist total zu spät! Was soll das?“
Vielleicht aber dachte ihr Freund, Sie seien für später verabredet? Oder es sind Sie, der sich in der Zeit geirrt hat? Oder er wurde noch durch einen Notfall aufgehalten und hat gute Gründe, die er auch gerne erklären würde, statt sich gegen die Unterstellung (Bewertung) zu wehren?
Wie also würde die reine Beobachtung lauten? „Wir waren für 19.00 Uhr verabredet und nun sehe ich, dass du um 19.30 Uhr kommst und ich seit einer halben Stunde warte.“
Eine reine Beobachtung, auf die ihr Freund nun reagieren kann. Er kann Ihnen beipflichten und sich entschuldigen, er kann seine Sicht der Dinge darlegen oder erklären, warum er später kommt.
Indem Bewertungen (viel zu spät, unzuverlässig, jetzt erst) vermieden werden, sinkt das Risiko, dass es zum Konflikt kommt.
Kritikgespräche immer mit Beobachtung einleiten
Und jetzt?
Achten Sie darauf, wie oft in Übergaben, Besprechungen und unserer Dokumentation Bewertungen einfließen, wo eigentlich Beobachtungen hingehören. Wenn Sie jemand direkt mit einer Bewertung konfrontiert, einigen Sie sich erst mit ihm darauf, was denn tatsächlich (beobachtbar) passiert ist. Wer sich darauf einigen kann, der kann sich auch auf Lösungen einigen, ohne dass es zum Konflikt kommt.
Beobachten statt bewerten ist der erste der vier Schritte der wertschätzenden Kommunikation (Gewaltfreie Kommunikation, GFK) nach Marshall B. Rosenberg. Die vier Schritte der GFK folgen in weiteren Beiträgen.
Wie gut können Sie zwischen Beobachtung und Bewertung unterscheiden? Machen Sie den Online-Test!.